Dearest Readers
Gedanken zu Programm und Weltlage
Hier teilen wir monatlich mit Euch unsere Gedanken zu Programm und Weltlage…
Juni 2022
dearest reader, dear art lovers & love artists, werte Funktionärinnen der Kulturindustrie, liebe/r zukünftige/r Vorstandspräsident/in der Zürcher Kunstgesellschaft, liebe Freunde und Freundinnen
Wir alle lieben Kunst. Einige unter Ihnen behaupten vielleicht sogar, Künstler:in zu sein. Ohne Kunst kein Fortschritt. Ohne Liebe keine Kunst. Aber gibt es Kunst überhaupt? Und Liebe?
Wir machen uns auf die Suche nach ihr (Liebe, Kunst, sie/ihr).
To love or not to love.
Everything you touch, you change.
Everything you change, changes you.
Kunst und Liebe, würde jetzt Niklas Luhmann vielleicht sagen, zeichnen sich durch die geringe Wahrscheinlichkeit ihrer Entstehung aus. Beides kann man finden. Oder zumindest suchen. Und: Man kann, oder muss sogar, Autonomie wagen.
Kunst und Geld wiederum …, also vielleicht halten wir es mit einem anonymen Sammler, der sagte: «Art and money can fuck, but they shouldn’t sleep in the same bed».
Aber uns geht es um die Liebe.
Und Kunst.
Wir flanieren durch die Milch der Träume:
Mischwesen, Körper und Metamorphosen, unscharfe Punkte zwischen Mensch, Natur und Technik. Ein Neuanfang im Anthropozän, irgendwo zwischen individuellen Mythologien und neuem Wissen, an der Intersektion zwischen Kunst und Technologie, Mensch und Natur, neuen Politiken der Identität … – irgendwo hier in Venedig sind Kunst und Geld am Ficken, aber, keine Sorge, sie schlafen nicht im selben Bett. Vielleicht sind sie in einem völlig überteuerten Hotelzimmer mit Beistellbett untergebr… – oh, aber halt, stopp: Wer oder was ist das, was dasteht, feuerrot, untailliert, mit geradem Körper, kleinem Kopf und langem Hals?
Er spricht mehrere Sprachen und macht sich zudem in Piktogrammen verständlich. Extincteur, Estintori. Wer die Nerven behält und im Ernstfall genau hinschaut, dem gibt er Auskunft, direkt, welches Löschmittel (im Zweifelsfall Schaum, kann aber auch Pulver sein, oder CO2), ausserdem: Brandklasse (fest, flüssig, gasförmig, schmelzend? A – F?), Füllmenge, Löschvermögen. Und, immer: «Allarmare i pompieri!» Selber löschen lohnt nur in der ersten Minute, danach rette sich wer kann.
So steht der Feuerlöscher mitten im ereignislosen Raum und erinnert an mögliche Katastrophen. Dem Schönen ist immer auch Zerfall, Zerstörung eingeschrieben, der Liebe das gebrochene Herz.
Trotzdem steht er da, mit langen dünnen Armen und sagt: «Ich beschütze dich. Wenn alle Stricke reissen, wenn alles in Flammen aufgeht und lichterloh brennt, werde ich hier sein und dir den Weg zeigen. Du und deinesgleichen habt zwar die Imagination gestohlen, ihr glaubt zwar nicht mehr an eine bessere Welt, aber ihr werdet sehen, es gibt sie.»
Was er in Weiss sagt, hören die wenigsten. Am lautesten spricht sein Rot. «RAL 3000». Feuerrot.
Rot springt uns entgegen. Blau dagegen zieht uns nach sich, sagt Goethe.
Blau liebt man, sehnsüchtig, sagt Meggie Nelson. Ozeanblau allein mache gleich das ganze Leben bemerkenswert. Blau zu lieben hiesse, die Unruhe, die Störung zu lieben. Aber ist die Liebe nicht selbst die Störung? «And what kind of madness is it anyway, to be in love with something constitutionally incapable of loving you back?»
Wieder rot!
Aus dem Gestrüpp – ist das auch Kunst? – zeigt sich plötzlich eine ähnliche Gestalt von dieser Röte, ähnlicher Körperbau, ebenfalls langer dünner Hals, lange dünne Arme. Die Gestalt nickt uns zu und schaut dann wieder geradeaus. Wir sehen, dass sie auf ein Objekt blickt, ein Tuch mit einer Zeichnung darauf und dem Hinweis: «Jetzt auch mit Seele».
Draussen das Meer. «The half-circle of blinding turquoise ocean». Ein alter Mann lässt sein Ruderboot aufs Wasser hinab. Blau. «Are you sure – one would like to ask – that it cannot love you back?»
Auf dem Land, in den Gärten, in den Blumen.
Der Alain kommt etwas unvermittelt. «Verehrtes Publikum, unsere Welt, ja noch viel schlimmer, unsere Vorstellungswelt ist aus den Fugen», sagt Berset.
Da steht er, vor dem Schweizer Pavillon in Venedig und sagt diesen Satz.
Imagine!
Das Konzert ist dann eine Leerstelle. Working Imagination. Konzert in absentia. Aber mit Seele.
Daneben ein Pavillon, dessen verkohltes Holz an die Ukraine erinnern will.
Ein leerer russischer Pavillon, unkommentiert, aber mit Security.
Ein Mann mit einem Schild um den Hals: «… is looking for a wife.» Well, naja, Dreams have no titles.
Und überall Videos, Skulpturen, Menschen.
Dazwischen, ungerührt, Feuerlöscher.
An einer Wand, in einer Ausstellung steht:
Mensch. Tier. Natur.
Wir alle haben Seelen. Objekte auch.
Wir alle sind Schönheit, und für mich ist
das
das, was im Wort Leben
enthalten ist.
Leben
verwöhnt uns
komplett.
Es ist herzzerreissend schön
einfach nur zu existieren. Ich
meine diese beiden Worte
wortwörtlich. Das Leben ist wirklich
verdammt schön. Einfach
akzeptieren
alles, was mit ihm kommt
in die Zeit, die uns bleibt
übergreifend:
eine von vielen
Definitionen der Liebe.*
Und in der Ecke steht noch so ein Feuerlöscher und wacht still über das Geschehen, rot. Vielleicht aber denkt er: blau.
Das (be-)rührt uns. Sehr. Mehr Schönheit finden wir nicht. Vielleicht hat uns unser roter Freund aber etwas anderes gelehrt: Berührbarkeit und stille Bereitschaft. Beseelt gehen wir ins Neumarkt.
Im Juni: Gleich zwei Arbeiten von Regisseur Max Hanisch! Mit «The Lobster» geht er der Liebe im Kapitalismus nach – ja, wir swipen weiter auf der Suche nach dem perfect match! («Baby don’t hurt me, don’t hurt me, no more!»). Ausserdem ist «Unlearning Acts», ein Solo mit Jakob Leo Stark, zurück im Programm. Ein Spiel mit Sprache und wie sie unsere Welt formt.
Wolfram Lotz wollte einmal über alles schreiben, richtig gegenwärtig sein. Und er schrieb. Viele Jahre, jeden Tag … eine Art Tagebuch und nach 3000 Seiten löschte er alles wieder. Und doch, jetzt liegt sie da: Die «Heilige Schrift I», 900 Seiten, 1 Jahr – alles, was noch gerettet werden konnte. Und Wolfram Lotz himself liest daraus vor, bei uns im Saal.
Hora Mitglied und Regisseur Remo Beuggert ist beim Filmgucken eingeschlafen – das, woran er sich noch erinnert, wird vom Theater Hora live auf die Neumarktbühne gebracht und abgefilmt.
«Kontaktkiller» erinnert daher nicht ganz von ungefähr an den ähnlich klingenden finnischen Kultfilm über einen Mann, der einen Auftragskiller auf sich selbst ansetzt, bis die Liebe seiner Todessehnsucht die Quere kommt. Grosses Drama!
Die Autorin Katja Brunner hat einen eigenen Text gemeinsam mit Ivna Žic in ein Hörspiel verwandelt: «Die Hand ist ein einsamer Jäger» erzählt uns vom weiblichen Körper als Kampfplatz von Zuschreibungen, Machtausübung und Domestizierungsversuchen. Und vom Widerstand. Nina Weber malt dazu. Live.
In der Chorgasse präsentiert Lucia Salomé Gränicher am Ende ihres Dramaturgiestudios bei uns am Haus «The Space Within Your Mouth». Eine kleine, feine, kuratierte Sound-Koch-Performance in 3 Gängen. Eingeladen hat sie verschiedene Künstler:innen, die sich jeweils einem Gang widmen.
Ausserdem: Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich im Rahmen der «Projektwoche Lachenzelg» mit Demokratie und Partizipation und lassen uns, in verschiedenen Formaten, teilhaben.
«Zärtlichkeit» erzählt von Sprachlosigkeit und träumt von einem anderen Berühren.
Dann noch «Spiritual Battle», eine Residenz von River und Mountain in der Chorgasse.
«Do not, however, make the mistake of thinking that all desire is yearning.» In diesem Sinne, dearest Reader, hab’ einen schönen Sommer, halt dich an deinem Feuerlöscher fest, und wenn wieder einmal alles blau und rot ist, halte Ausschau nach dem weissen Kleingedruckten. Weil: das Wesentliche steckt bekanntlich im Detail. Und auf den zweiten Blick verstetigt sich die Liebe. Und die Kunst.
Love Play Fight
Dein Neumarkt (jetzt mit Seele)
* Jadé Fadojutimi, Hear My Cry
PS: Blau, Rot, Weiss – die Farben von Kolonialmächten und Diktaturen. Vielleicht lieber mehr mischen? Nächste Spielzeit bringen wir eine neue Farbpalette mit, versprochen!
Mai 2022
Dearest Reader
Alles zeigt sich. Die Folgen der Pandemie, die Folgen der Gier, die Folgen des Hasses, die Folgen der Angst.
Alles wiederholt sich.
Pandemie, Krieg, Flucht, Armut, Zukunftsangst, Sinnkrise.
Alles tut weh.
Die Trauer, die Hoffnungslosigkeit, die Fragilität, die Entfremdung, die Brutalität.
Die Wunden.
Wunden, die daliegen. Einfach so. Grösser werden. Vor unseren Augen, in den Städten, an den Grenzen, in uns.
Unverdeckt, klaffend, blutend.
Wunden, die nicht heilen wollen. Nicht heilen können, weil jeden Tag neue dazukommen.
Wunden, die kaltblütig, kalkuliert anderen zugefügt werden.
Verwundete Menschen, Familien, Strassen, Häuser, Pflanzen, Tiere.
Wunden, die hässliche Narben hinterlassen, Furchen.
Wunden, die sich durch den Asphalt drücken, durch unsere Haut, die Risse machen, Löcher reissen.
Wunden, die kribbeln, die weh tun.
Wunden, die sich wie eine Totenstarre anfühlen – leer und kalt.
What is the cure?
Der Volksmund sagt: Die Zeit heilt alle Wunden.
Adorno schreibt: Der Panzer verdeckt die Wunde.
Beuys installiert: Zeige deine Wunde.
Ja, zeige deine Wunde und sie wird geheilt.
Nicht unterdrücken, nicht verdrängen, nicht kaschieren, nicht ignorieren, nicht wegsehen.
Erich Fromm sagt: Die Welt ist krank. Die Normalsten sind die Kränkesten und die Kranken die Gesunden.
What is the cure?
Bell Hooks schreibt: Die Verwundung verschliesst das Herz. Nur die Liebe kann die Wunden der Vergangenheit heilen.
Fürsorge, Zärtlichkeit, Anerkennung, Respekt, Vertrauen, Engagement, Versprechen.
Worte, nichts als Worte? Leicht daher gesagt? Zu naiv angesichts der aktuellen Weltlage?
Zeige deine Wunde. Sei berührbar und berühre. Liebe.
Mehr als ein Wort. Denn darin ist etwas angelegt, das, wenn man genau hinsieht, genau hinhört, einen Ausweg weist.
Wer in Beziehung tritt, sich mit dem Unverbundenen, Unbekannten, Unähnlichen verbindet, der liebt.
Adorno schreibt: Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches am Unähnlichen wahrzunehmen.
Im In-Beziehung-treten, im Aufbrechen der verdinglichten, kalten – oder wie Fromm meint – «kranken Welt» steckt eine revolutionäre Kraft. Sie verbindet, schafft Solidarität, macht aus atomisierten Ich-AGs ein gemeinschaftliches «Wir».
Die Verbundenheit und Verantwortung füreinander ist die Grundlage für eine gemeinsame Zukunft – eine gemeinsame Arbeit, ein gemeinsamer Prozess des Wachsens, wie Şeyda Kurt schreibt. Die Liebe als Triebfeder, die eigene Gegenwart und Zukunft mit der Gegenwart und Zukunft anderer Erdenbewohner:innen zu verweben.
Im Individuellen wie im Gesellschaftlichen. Im Platonischen wie im Politischen. Im Erotischen wie im Romantischen.
Um Liebe im Kapitalismus geht es in der Inszenierung «The Lobster» , einer theatralen Überschreibung des gleichnamigen Films von Giorgos Lanthimos.
In dieser Geschichte haben Singles 45 Tage Zeit, eine:n neue:n Partner:in zu finden. Wem das nicht gelingt, wird in ein Tier verwandelt. Die Aufgabe, die an die Singles gestellt wird, lautet: Finde deinen perfekten Match. Und das bedeutet in diesem Film: Nach Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten Ausschau halten. Wo keine zu finden sind, werden sie simuliert, erfunden, äusserlich hergestellt.
Hauptsache Match. Es ist keine Neuigkeit, dass die obligate heterosexuelle Monogamie, die Idee der Paarbeziehung die Logik einer patriarchalen, kapitalistischen Welt ist. In Zeiten von Tinder, Parship & Co., von Beziehungslosigkeit und Sehnsucht nach Verbundenheit nimmt das Neumarkt den Kultfilm als Anlass für tragikomische Geschichten von der Suche nach dem perfekten Match.
Der Abend in der Regie von Maximilian Hanisch ist eine Abrechnung mit der Liebe im Kapitalismus und ein Fluchtversuch aus dem konformistischen Beziehungsmarkt.
«The Lobster» ist der Versuch der Liebe, allen Raum zu geben ausserhalb der warenförmigen Logik des Matching. Ein Versuch, der algorithmischen Vernunft der romantischen Paarbeziehung als erwerbbares Produkt, Alternativen entgegenzusetzen.
Wenn wir lieben, sehen wir in den Anderen alles Mögliche. Wir sehen ihre Vulnerabilität, wir sehen ihre Grosszügigkeit, ihre besten Absichten, ihr schmerzliches Ringen mit sich selbst; wir sehen ein Lächeln, wir bemerken ein leichtes Zögern, Begeisterungsstürme, nachdenklichen Rückzug. Wir sind sensibel, dem Menschen, den Menschen gegenüber. Sensibel und berührbar Situationen gegenüber.
Schwer zu sagen, wie sich das auf die Welt der Gig-Work, der Start-ups, des Venture Capital übertragen lässt. Aber, zurück im Programm ist «Trottinett Ballett» – eine Art «Starlight Express» aus der Start-up-Welt, eine Verkehrs-Choreografie von merkwürdiger Schönheit. «Trottinett Ballett» zeigt unsere komplizierte Liebesgeschichte mit der Sharing Economy. Wie das Theater braucht auch jedes Start-up eine Story – im Idealfall ist es eine emotionialisierte und emotionalisierende Geschichte. Passion, Dedication, ein wichtiger Cause und die ganz persönliche Anbindung an das Produkt werden behauptet und in den Unternehmenskulturen performt – zumindest bis zum Verkauf oder Börsengang. Möglichst einzigartig, möglichst individuell, auch wenn diese Einzigartigkeit passgenau in den accelerators oder incubators am Fliessband produziert wird.
«Am Ende», so ein Gründer, «ist es eine Frage des Glaubens – der Glaube daran, dass dein Produkt besser ist als alle anderen.»
Nothing compares to you, so die Passion-Economy. In Beziehung wird hier nur mit dem Tretroller getreten – so lange, bis ein neues Produkt als noch begehrenswerteres Objekt auf den Markt kommt. Das tut weh.
What is the cure?
In-Beziehung-Treten, das Unähnliche anerkennen, Verletzlichkeit zulassen.
Ja, zeige deine Wunde.
Sei vulnerabel. Gerade wenn es schmerzt. Wenn unsere Mitmenschen wegzuschauen beginnen, weil Nicht-Wissen vor Verantwortung schützt. Wie aktuell bei der Volksabstimmung über die Finanzierung der Grenzschutzbehörde Frontex. Lieber sprechen die Entscheidungsträger:innen über Verträge und Sicherheit. Die eigentliche Tragödie wird verdrängt. Weil es keine rechtliche, geschweige denn humane Antwort darauf gibt, warum manche Zufluchtsuchende mit dem Schlagstock, andere mit Teddybären willkommen geheissen werden.
In «Die Frontex-Protokolle» lassen wir die Zeugnisse des Grenzregimes für sich sprechen – ein Innehalten und Hinschauen, wo fern ab des Schweizer Abstimmungskampfes Menschen auf der Flucht tagtäglich ihrer Würde und ihrer Rechte beraubt werden.
What is the cure?
Bell Hooks schreibt: Die Liebe ist zutiefst politisch. Unsere tiefste Revolution wird kommen, wenn wir diese Wahrheit verstehen. Nur die Liebe kann uns die Kraft geben, inmitten von Herzschmerz und Elend vorwärtszugehen. Nur die Liebe kann uns die Kraft geben, uns zu versöhnen, zu erlösen, die Kraft der Liebe ist die Grundlage für jeden sinnvollen sozialen Wandel. Ohne Liebe ist unser Leben ohne Sinn. Die Liebe ist das Herzstück von allem. Wenn alles andere gefallen ist, hält die Liebe uns aufrecht.
In diesem Sinne, dearest reader,
LOVE! & Play & Fight –
Dein Neumarkt
PS: Schaut euch auch die Veranstaltung zu Literatur und Pornografie und sowieso alles an.
April 2022
Ohne Worte...
März 2022
liebe Zwinglianer:innen,
liebe Kyniker und Kynikerinnen,
liebe Workaholics
Es ist März, fast Nacht, Winter wird vertrieben. «Karneval!», ruft Hayat. Julia glaubt nicht an den Karneval. Oder vielmehr nicht daran, dass der Karneval ein zureichender Grund für diesen Brief ist. Hayat versteht Hund anstelle von Grund, was sehr gut zum Karneval passt, also der anarchistische Kynos. Nikolai, der Quotenschweizer in der Dramaturgie, merkt an, dass es in der Schweiz keinen Karneval, sondern nur die Fasnacht gibt. Michel, der Luzerner, klatscht begeistert in die Hände und erinnert die Zwinglistädter:innen an die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung.
Oben ist unten, unten ist oben. Fröhliche Instabilität, Ambivalenz und Exzess erwarten uns. Denn einer grotesken Welt wird vielleicht nur eine Verkehrung der bestehenden Ordnung gerecht. Und das Einzige, was uns bleibt, sind nicht die Masken der Verleumdung, sondern nur das Lachen. Und sei es das Grosse I-A des Golden Ass.
Also: Grosses Kino, bitte!
* CUT. *
Es ist Nacht. Wir befinden uns vor dem Palazzo des Neumarkt.(1)
Ein Jaguar E-Type fährt vor dem Zunfthaus vor, das mit Statuen aus dem 16. Jahrhundert und einem Schuh verziert ist. BÖGLI (dey/dem) steigt aus. Dey ist von Kopf bis Fuss gestylt, trägt einen Nerzmantel, Haare und Make-up sitzen. Und deys Schuhe! Und deys Parfum erst! Dey meint es ernst.
BÖGLI (Voiceover): Es war ein Kostümfest, das von Graf Huldrych. DARIO hatte ihn im Sommer zuvor kennengelernt. Die Crème de la Crème der Niederdorfer High Society war da gewesen.
DARIO, 25 Jahre jung, fröhlich und teuflisch gutaussehend, holt etwas aus dem Handschuhfach und steckt es sich in den Mund. Er dreht sich um und lächelt BÖGLI an.
MUSIC CUE: LA BAMBOLA.
Wir folgen BÖGLI. Dey nickt den Kolleg:innen vom Einlass zu, geht die prunkvolle Treppe hinauf, vorbei an zwei kichernden Gästen, die sich als Matadoren verkleidet haben. BÖGLI nähert sich den riesigen Flügeltüren, die DARIO für dey aufschwingt. Sie betreten den BALLROOM des Neumarkt Palazzos. Eine Karnevalsparty ist im Gange. Die Kostüme sind exquisit. Venezianische Masken, klassische Komponisten, historische Figuren und ein goldener Esel sind da. DARIO steht hinter BÖGLI und nimmt ihm den Nerzmantel ab. Darunter kommt ein funkelnd-rotes Kleid zum Vorschein.
* CUT. *
Stille. Die Gäste haben ihre Unterhaltungen unterbrochen. Alle im Raum drehen sich nach den beiden um. Natürlich auch die Frauen. Der Gastgeber, GRAF HULDRYCH, begleitet von zwei Leichen, setzt seine Unterhaltung mit DIVA MICHEL und SANDRO fort.
GRAF HULDRYCH: Wo war ich stehengeblieben?
SANDRO: Du sprachst gerade über dich selbst.
GRAF HULDRYCH: Wie ich schon sagte, die Leute respektieren Aristokraten nicht mehr so wie früher. Ich musste hart arbeiten, um zu sein, wer ich bin. Aber mein Aussehen ist gottgegeben.
SANDRO: Ich bin Atheist.
GRAF HULDRYCH: Du bist genau mein Typ. Weisst du, warum? Du stellst keine dummen Fragen. Du bist schön. Du kennst deinen Platz. Ich wünschte nur, du wärst grösser.
SANDRO: Und ich wünschte, du wärst klüger und lustiger, Graf. Aber c’est la vie.
GRAF HULDRYCH lacht gequält.
ERSTE LEICHE stupst ihn mit dem Ellbogen an. GRAF HULDRYCH nimmt SANDROs Arm.
DIVA MICHEL: Komm, wir holen dir ein Glas Wein.
SANDRO befreit sich aus dem Griff, verärgert: Ich hol mir mein eigenes verdammtes Getränk.
GRAF HULDRYCH und DIVA MICHEL schauen sich an. Der GRAF wirft ungeschickt einen Eiswürfel auf den Boden.
DIVA MICHEL bückt sich, hebt ihn auf: Ich bin Michel.
GRAF HULDRYCH: Wieso habe ich dich noch nie gesehen?
MUSIC CUE: IL CIELO IN UNA STANZA.
DIVA MICHEL lächelt, packt ihn bei der Hand und zieht ihn auf die Tanzfläche.
Slow-Dance zu «Il Cielo in una Stanza» von Mina.
* CUT. *
Um die Umwertung aller Werte und Überschreibung fester Zuschreibungen geht es auch bei Madama Butterfly, das zurück im Programm ist. Die japanische Autorin und Regisseurin Satoko Ichihara dreht in ihrem internationalen Rewrite mit Yellow Butterflies, Avataren und Sailor Moon den Spiess der Männerfantasie Puccinis um und erzählt die Geschichte aus der Perspektive der alleinerziehenden Mutter.
Premiere feiert Frauengold. (Un)Doing Silence – «Frauengold stärkt, schenkt Lebensfreude, dämpft Ängste und entkrampft an allen Tagen!», so bewarb man nach dem 2. Weltkrieg das alkoholische Getränk, das der Frau wieder zu ihrer Bestimmung verhelfen sollte: Gattin, Mutter, Hüterin des Herdes. Kenza Nessaf setzt sich in ihrem Regiedebut mit Frauenbildern und -rollen auseinander, untersucht die Mechanismen des «Silencing» und zeigt Wege auf, wie diese ausgehebelt werden können.
Auch eine Premiere: Park. Eine Performance nach dem gleichnamigen Roman von Marius Goldhorn erzählt nüchtern von der Deckungsgleichheit zwischen Online- und Offline-Modus. Ob der Protagonist ein Wurstbrot isst, durch Athen spaziert, ein Youtube-Video schaut, ob Artischockenfestival oder Terroranschlag: egal. Alles gleich in der Welt der Smombies, in der das Wort «Krise» ein Synonym für «Normalzustand» geworden ist und Utopien nur noch auf Wikipedia herumgeistern. Das Team um Regisseurin Julia Skof verwandelt die Chorgasse in eine Grabkammer der Gegenwart.
* CUT. *
Hinter dem Vorhang im Palazzo Neumarkt. BÖGLI und DARIO trinken Negroni.
BÖGLI: Ich hoffe du denkst nicht, dass ich hier versuche, dir eine moralische Lektion zu erteilen, oder dir etwas zu erzählen, was du bereits weisst.
DARIO lächelt, zuckt mit den Schultern, zieht den Vorhang zu, dann wieder auf: Ach, weisst du, was mich eben schon interessiert, ist dieser Vogl (2). Ich weiss, du wirst dich gleich aufregen, aber Internet und Plattformkapitalismus, die Fusion von Finanzökonomie und Kommunikationstechnologien und wie Ressentiment die Affektökonomien befeuert, das sind halt meine Themen – also die unserer Zeit.
BÖGLI: Du hast dich verändert. Beim letzten Ball hättest du noch eher über Religion diskutiert. (3)
Völlig unerwartet taucht aus der Theaterklappe DIVA MICHEL auf. BÖGLI und DARIO springen erschrocken zur Seite.
DIVA MICHEL stellt sich tatsächlich die Frage: Who Do We Want to Be? (4)
* CUT. *
Es ist März, fast Nacht und die Sterne funkeln.
BÖGLI (Voiceover): Neumarkt, das war ein Name, der klang so süss, so verführerisch. Synonym für Reichtum, Stil und Macht.
Ewig mein,
Ewig dein
Dein Neumarkt
(1) Dramatis Personae: Sandro Burkart, Marketing, als SANDRO / Michel Rebosura, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, als DIVA MICHEL / Andreas Bögli, Technischer Leiter, als BÖGLI / Dario Theiler, Betriebspraktikant, als DARIO / ERSTE LEICHE & ZWEITE LEICHE / Huldrych Zwingli, Reformator und Soldat, als GRAF HULDRYCH
(2) Vogl, Joseph: Medien-, Literatur- Kulturwissenschaftler und Philosoph, hängt an der Humboldt-Universität und Princeton ab, schreibt Bücher und arbeitet als eine Art Ghostbuster für Geld-, Finanzwesen und andere Zombies.
(3) Brillant und bissig erzählt Ozan Zakariya Keskinkılı in seinem Buch «Muslimaniac. Die Erfindung eines Feindbildes» von einer konsequenten Verfremdung und bahnt einen Weg der Annäherung.
(4) Activation #2 – Who Do We Want to Be? Ein Gespräch im Rahmen des Online-Projekts «100 Ways to Say We» mit Asmaa Jama, Dänisch-Somalische Künstlerin und Dichterin, Adrian Notz, Kurator am ETH AI Center und Riar Rizaldi, Künstler und Filmemacher aus Indonesien sowie Nikolai Eneas Prawdzic.
Februar 2022
liebe alle, dearest readers
Müssen wir über den Skandal reden? Nee, oder*? Der Trend ist eindeutig. Wir sind begeistert von unserem Tun. Und wir engagieren uns ehrenamtlich im Standortmarketing. Denn Zürich braucht Sinn, Humor, Ironie und tiefere Bedeutung; eine Prise Rêverie, Dérive, ach, ne, Flânerie. Spazierengehen halt.
Gut, let’s go!
Wir gehen den Neumarkt hoch, Richtung Heimplatz, klopfen beim Kunsthaus an Rodins Höllentor** und treten hindurch (Danke, Emil ;-***.)
Ah, Kreis 7 (Gewalt, Preis-Niveau: $$$****)! Wunderschöne Hanglage. Hier sind auch Zoo und Dolder angesiedelt. Eine weite Ebene, die von grossen Flammenflocken, die langsam vom Himmel fallen, versengt wird. Die Gottesläster:innen ausgestreckt auf dem brennenden Sand, Sodomit:innen laufen im Kreis. Da sitzen schon die Wucher:innen, die gegen Natur und Kunst verstossen haben, zusammengekauert und weinend in Ecken und traden NFT’s. Dafür braucht man Budget. Wir ziehen weiter. Die Zeit ist gekommen, die Trompete für Euch erschallen zu lassen!
Kreis 8 (Betrug, Preis-Niveau: $$$). Urban Chic am rechten Seeufer, legt sich wie ein edler Garten über die Stadt und bietet, neben zahlreichen Boutiquen, die Malebolge (bösen Gräben). Gestank von angefaulten Gliedern zieht herauf. Griffolino kratzt an seiner Krätze, zwei nackte bleiche Schatten laufen vorbei. Sonst Kuppler:innen, Verführer:innen, Schmeichler:innen und Sex-Arbeiter:innen, Wahrsager:innen und Zauber:innen, Betrüger:innen und schlechte Ratgeber:innen am Pechsee mit den Teufel:innen. Hier haben sich viele Agenturen und exklusive Geschäfte niedergelassen. So beliebt wie der Kreis ist, so kostspielig sind auch die Mietpreise. Wir sehen fasziniert zu und schämen uns dann dafür. Dann verlassen wir den Pechsee und gehen dahin «wo kein Ding glänzt».
Kreis 2 (Lust, Preis-Niveau: $$$). Hier treffen sich die Schönen und Reichen an einer atemberaubenden Lage. Dido, Kleopatra, Helena von Troja, Paris, Achilles, Tristan und viele andere, die in ihrem Leben von sexueller Liebe überwältigt wurden. Etliche chice Häuser und Wohnungen im Historismus-Stil. Und da ist auch Minos, der seinen Schwanz die entsprechende Anzahl von Malen um sich gewickelt hat. Leben wie in Hollywood, denken wir. «Die helle, wollüstige Sünde wird nun so gesehen, wie sie ist – eine heulende Dunkelheit hilflosen Unbehagens.» Das macht Appetit, weiter!
Kreis 3 (Völlerei, Preis-Niveau: $$) war früher ein Arbeiterquartier und hat sich unterdessen zu einem beliebten Wohnquartier gemausert. Mit gutem Grund: Hier suhlen sich die Vielfrasse in einem ekelhaften, fauligen Schlamm, der von einem unaufhörlichen, eisigen Regen erzeugt wird – «ein grosser Sturm der Fäulnis». Hier haben wir gechillt japanisch gegessen und sind auf Bildern verewigt worden, dann noch ein bisschen «hündelen» mit Zerberus auf der Allmend.
Kreis 9 (Verrat, Preis-Niveau: $). Beim Warten auf die Gentrifizierung lebt es sich (noch) entspannt: Das Viertel rund um Altstetten hat sich nach dem Turmbau zu Babel zu einem richtigen It-Place mit vielen neuen Restaurants entwickelt. Neben seinem berühmtesten Bewohner, Judas, wohnen hier, gefangen im Eis, alle Verräter:innen und bestraften Sünder:innen, die sich des Verrats an denen schuldig gemacht haben, zu denen sie besondere Beziehungen hatten (Familie, Gäste, Herren, Tinder). Der Kreis 9 ist der bevölkerungsreichste Kreis von Zürich.
Rascher Aufstieg vom Mittelpunkt der Erde: ein gewundener Gang führt zurück in die oberen Kreise, auf dem Boden finden wir eine Notiz: «Es gibt nichts Harmloses mehr»!
Kreis 4 (Gier, Preis-Niveau: $$) ist längst kein Ort mehr für Tierkadaver, aber definitiv immer noch bekannt für ein paar «Cheiben» anderer Art: «ein Volk von verlorenen Seelen, weit mehr, als unten waren: sie drücken ihre Brüste gegen enorme Gewichte, und mit wahnsinnigem Gebrüll rollen sie aufeinander zu. Dann in Eile rollen sie zurück, und die einen schrien: ‹Warum hortet ihr?› und die anderen: ‹Warum verschwendet ihr?›» und Hafti sagt: «Warum bellst du, Chihuahua?». Kein Wunder, hier steppt der Bär. Eine Nacht an der Langstrasse, bis man sich selber alles glaubt. Wir wollen nicht mehr weg.
Kreis 5 (Zorn, Preis-Niveau: $$$). Hier geht’s voll ab in dieser göttlichen Komödie! Im letzten Kreis der Wollust ratterten früher Maschinen über das Industriequartier. Heute ragt hier der Prime Tower empor. In den sumpfigen, stinkenden Gewässern des Flusses Limmat bekämpfen sich die (aktiv) Zornigen bösartig an der Oberfläche des Schlamms, während die Mürrischen (die passiv Zornigen) unter dem Wasser liegen, zurückgezogen «in eine schwarze Mürrischkeit, die keine Freude in den Menschen oder dem Universum finden kann, unfähig, sich selbst auszudrücken vor Wut, die sie erstickt». Wohnen im Kreis 5 macht Spass, hat aber auch seinen Preis.
Kreis 6 (Häresie, Preis-Niveau: $$). Ein gewittergrässlicher Schmerzensschrei erdröhnt, als wir uns dem sechsten Kreis nähern. Hier findet man nebst dem imposanten Unigebäude viele Jugendstilvillen, grüne Oasen wie beispielsweise den Irchelpark und kulturelle Schätze wie das Kulturhaus Dynamo. Da sind die Menschen (die sagen, «die Seele stirbt mit dem Körper») in flammenden Gräbern gefangen – Materialist:innen sind lebendige Tote. Ein beliebtes Wohnquartier für Student:innen und Familien.
Kreis 1 (Vorhölle, Preis-Niveau: $$$). Wir sind in der Vorhölle des Sinnlosen angekommen. Ein dunkles Nebeltal breitet sich vor uns aus. Das Who is Who der Ungetauften steht in der Schlange vorm Höllentor. Adam, Cäsar, Elektra, Saladin, Brutus und eine Gruppe Philosoph:innen (Sokrates, Platon, Demokrit, etc.) werden mit dem Leben in einer mangelhaften Form des Himmels bestraft: Die luxuriöse Bahnhofstrasse, eindrückliche Zunfthäuser, imposante Kirchen und das Opernhaus liefern eine Vielfalt an Freizeitmöglichkeiten und Kultur.
Hat jemand Kultur gesagt?
Das ist doch unser Stichwort!
Diesen Monat neu im Neumarkt:
Slapstick oder Wutanfall? PREMIERE! In Cheese War. Eine systemrelevante Groteske arbeitet sich, inmitten von Flock- und Lockdowns, eine Truppe Pizza-Worker an der Makeline in den Wahnsinn: In 30 Sekunden muss die Pizza fertig sein, und wehe, der Käse geht minus! Lubna Abou Kheir schrieb uns ein feines, bitterböses Stück aus der Effizienzhölle zeitgenössischer systemrelevanter Arbeitsbedingungen in Fast Food & Food Delivery. Von allen geliebt, ist nichts so sexy wie Pizza.
Ausserdem: Weiterhin beschädigtes Leben bei Porno mit Adorno mit Faber, The Art of Assembly mit Florian Malzacher, Julian Warner und Edit Kaldor, die Hottinger Literaturgespräche sowie die Buchpräsentation von Natali Amiris «Zwischen den Welten», Mir wächst ein Schnauz von Sascha Rijkeboer und vieles mehr!
Vielleicht, liebe Lesende, muss sich die Tragödie einfach wiederholen, bis sie zur Komödie wird. In diesem Sinne: Humor = Vergnügen + Schmerz & der Witz setzt Publikum voraus.
Also, liebe Sünder:innen, kommt ihr eh vorbei?
Vergesst nicht, die Welt von uns zu grüssen!
LOVE PLAY FIGHT
Dein Neumarkt
* Hier noch eine kurze Liste von Dingen, die wir auch nicht brauchen: Todesanzeigen aus wirtschaftlichen Motiven, grosse Unterschiede bei Selbsttests, Freiheitstrychler in Zürich, Hyperzivilisatorische Einsamkeit, deadly Deadlines, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (…).
** «Durch mich geht es zur Stadt der Leiden,/Durch mich geht es zum ewigen Schmerz,/Durch mich geht es zu den verlorenen Menschen./Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate!/Die ihr hereinkommt: Lasst alle Hoffnung fahren!»
*** Ausserdem gilt unser Dank dem Kunstsachverständigen Hermann Göring, der den Abguss bestellt hatte, sowie den Alliierten, die so freundlich waren, es dem Waffenfabrikant Emil Bührle zu veräussern, welcher es schliesslich, mittels Kunsthaus, uns allen zukommen liess.
**** Wir danken überdies hellgate.ch & allen Makler:innen dieser Stadt – Zürich wäre nicht die gleiche ohne Euch.
PS: Und wo wir schon moralisch sind: «If you’re really a mean person you’re going to come back as a fly and eat poop.» (Kurt Cobain)
PPS: Stimmungskanonen verbrauchen viele geistige Platzpatronen.
PPPS: Pizza Hawaii wurde in Kanada von einem Griechen erfunden.
PPPPS: The audience is the message.
Januar 2022
Neujahrsansprache für das Jahr 2022. Wollishofen. Im Hintergrund das Südportal des Uetlibergtunnels. Dein Neumarkt stellt sich neben einen zerrupften Weihnachtsbaum. Es regnet. Motoren rauschen. Der Baum tropft und nadelt. Freude herrscht.*
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Liebe Mitbewohnerinnen und Mitbewohner dieses Landes,
Liebe Schweizer:innen im Ausland! Liebe Ausländer:innen in der Schweiz!
Dankbar. Zuversichtlich. Leicht beschädigt.
So wollen wir den Weg ins 22. Jahr des 21. Jahrhundert gehen!
Im Namen des Bundesrates, des Schweizer Bühnenverbandes, der prosperierenden Pharma- und Kulturindustrie, des Verblendungszusammenhanges, und auch in unserem eigenen Namen wünschen wir Euch und Ihnen zu diesem ganz besonderen Jahreswechsel und für dieses ganz besondere Jahr 2022 Yodas Segen, Glück und Gesundheit! Und für alle Fälle eine schnelle Internetverbindung.
Zuerst die Dankbarkeit:
Wir sind dankbar dafür, dass die Schweiz die schwierigen zwei Jahre, die hinter uns liegen, ohne Krieg überstanden hat. Wir danken den drei Generationen, die unserem Land im ersten, zweiten und dritten Lockdown gedient haben; die es mit ihrem Wissen, Können und Wollen durch turbulente Zeiten geführt haben, die ein halbwegs modernes, halbwegs gerechtes und halbwegs soziales Gesundheits- und Staatswesen aufrecht gehalten haben. Sie haben uns Sicherheit, Stabilität, offene Supermärkte mit Frischeregal, Food Delivery und unser Überleben garantiert. Dafür sind wir dankbar. Das alles verpflichtet aber auch. Es verpflichtet uns, zu teilen. Es verpflichtet uns, zu helfen, wo Not ist. #Solidarität.
Zuversicht ist unser zweites Stichwort:
Wir sind grosse Fans von Tunneln. Tunnel sind toll. Und sie sind, wie Adolf «Dölf» Ogi sagte, «geboren aus der Weitsicht heraus, als Transitland einen Beitrag an das zusammenrückende Europa zu leisten.» Yes, Go Tunnel, Go! Buh, Grenze, buh! Von Dölf konnten wir auch lernen – und das war legendär, wisst Ihr noch? Total cringe, aber auch cute, irgendwie –, dass «der Tunnel für viele Menschen ein Symbol ist. Für die Gesunden, Aktiven und Mutigen ist der Tunnel das Symbol der Öffnung und des Aufbruchs. Für die Kranken und Entmutigten ist der Tunnel oft eine Bedrohung. Sie fühlen sich in seiner Dunkelheit gefangen.» Aber Dölf ermunterte uns damals auch: «Verharren Sie nicht, geben Sie nicht auf. Gehen Sie weiter! Mit jedem Schritt vorwärts wird es heller. Am Tunnelende ist das Licht. Hell, warm, freundlich!» Das sind doch gute Nachrichten! Hey, und kommt uns jetzt nicht wieder mit «The light at the end of the tunnel is just the light of an oncoming train». Wir wollen unsere Tunnel am Ende mit Licht. Danke Tunnel! Happy New Year, Tunnel!
Hier sind wir also, mit Tannenbaum, vor dem Tunnel oder am Ende des Tunnels – zuversichtlich und dankbar, ein bisschen wacklig auf den Beinen und beschädigt, weil – Ihr spürt es ja auch – weil es nichts Harmloses mehr gibt. Aber: Wir stehen! Wir haben Herz! Wir träumen… – Kurze Unterbrechung! Es erreicht uns soeben eine Eilmeldung: «Es gibt kein richtiges Leben im falschen.» – Oh, was? Ach, Teddy! – Und direkt eine hinterher: «Fun ist ein Stahlbad.» – Funny, checkt aber kein Mensch. Mehr über die Lage der Welt und die Kälte zwischen den Menschen erfahrt Ihr auf unserem aktuellen Newskanal: Porno mit Adorno. Nachrichten über das beschädigte Leben. Eine Hyperpop-Oper.
Stellt Euch vor: Adorno meets Artificial Intelligences, die aus dem Geiste der absoluten Negativität des Denkens und der Traurigen/Kritischen Theorie Nachrichten über unsere Welt weiterschreiben. Dann sind da noch deep fakes, weil das Ganze das Unwahre ist und – Noch eine Meldung: «Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein» – bei all den Beschädigungen und den sich gegenseitig überbietenden Sensationsqualitäten können wir uns eigentlich nur noch wünschen: Auf dem Wasser liegen, sein, sonst nichts und sich berühren lassen, ein bisschen was fühlen, deep real. Diesen Part übernimmt Faber, ja, genau, der Faber, mit der zärtlichwarmen, tief-rauhen Stimme. Vielleicht ist er sogar Adornos unerfüllte Sehnsucht?
Aber zurück zum Tunnel – und zum Baum: Ein Zeichen der Hoffnung für die Zukunft, dieser Baum. Und wir sind seine Äste:
• Einen Ast widmen wir den Jungen. Sie haben auf Uusgang verzichtet, und hart viel Zeit mit ihren peinlichen Eltern verbracht.
• Ein Ast gebührt den Senior:innen. Und den Risikogruppen, die so oft wegen der Dummheit der Mehrheitsgesellschaft zu Hause bleiben mussten.**
• Ein Ast gebührt allen, die in Sozial- und Gesundheitsberufen arbeiten und allen, die freiwillig mithelfen.
• Ein Ast für alle, die das alles manchmal echt traurig macht.
• Einen Ast sprechen wir denen zu, denen grad alles sinnlos erscheint.
• Ein Ast steht für die Zerbrechlichkeit! Und gute, grosszügige Freunde, die sie zulassen können!
• Ein Ast steht für die Negative Dialektik, die keine Hoffnung und keinen Trost mehr sieht, ausser in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungeminderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.
• Einen Ast widmen wir unseren unfassbar tollen Mitarbeiter:innen, die diesen Irrsinn mit uns durchstehen.
• Einen Ast widmen wir den Zuschauer:innen, die trotzdem kommen und denen, die kommen würden, aber es lieber nicht tun.
• Diesen Ast sprechen wir den Künstler:innen zu, allen voran Haftbefehl und Faber. Sie geben uns, was die Seele berührt und mehr wert ist als Ruhm und Macht.
• Ein Ast gehört dem Kryptomillionär Niklas Nikolajsen, der früh ins FinTech Business einstieg und heute der King-Decentraliser von Zug ist.***
• Einen Ast widmen wir dem Zaudern und dem Zweifeln. Und dem trotzdem Hoffen und der Sehnsucht nach dem Glück.
Der Baum hat noch viele Äste. Alle kriegen einen, alle gehören zu den Zukunftskräften!
Wir kommen zum Schluss:
La Suisse n'existe pas! Die Schweiz lebt! Das Leben lebt nicht. «Bitch! Ich lebe Leben» (Hafti).
Dank Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Liebe Leser:innen. Wir wünschen Euch und Ihnen Glück und Mut auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, im Tunnel der Ungewissheit.
Wir gehen den Weg gemeinsam:
Dankbar. Zuversichtlich.
Leicht beschädigt.
Mit Licht am Ende. Versprochen!
FROHES NEUES UND LOVE PLAY FIGHT
Dein Neumarkt
* Im Stillen dankt es Adolf «Dölf» Ogi (Bundesrat von 1987–2000) und Theodor Wiesengrund Adorno (ein Hauptvertreter der Kritischen Theorie a.k.a. «Frankfurter Schule») für die tolle Inspiration! Dölfs legendäre Neujahrsansprache findet ihr auf srf.ch oder admin.ch.
** Shoutout für das Theater HORA! Froh's Neu's!
*** Hallo nach Zug! Dein Neumarkt ist interessiert an Dir. Wir mögen Crypto und Blockchain und wir mögen Briefkästen. Vielleicht könnte daraus ja eine Freundschaft entstehen? Wir melden uns!
**** Hey, liest das eigentlich jemand? Wenn ja, schreib uns doch einfach mal zurück! Zum Beispiel unter: info@theaterneumarkt.ch.
Dezember 2021
Liebe Gutmenschen, Philantrop:innen und UHNW*, Liebes Christkind, lieber Schmutzli Lieber Benedikt, Benjamin, Claus, Florian, Hasko, Kanye, Matthias, Lieber Milo, Nicolas, Oliver!, Peter, René, Stefan, Thomas
Wie fühlt Ihr Euch so kurz vor dem Ende? Vorfreude? Bisschen Cringe, oder? Ja, bald ist es vorbei. Mit 2021, mit der Welt wie wir sie kannten, oder dachten, zu kennen. Meanwhile, bereiten sich auf den Schweizer Pisten die Touristiker:innen auf eine ziemlich normale Ski- und Snowboardsaison vor. Andere geben noch schnell bisschen was aus für Charity – Spenden oder Philanthropy. Ihr wisst schon: Heal the world. Make it a better place. (Satz des Jahres: Die einen tragen Verantwortung, die anderen Kuhglocken.) Muss man dazu überhaupt was sagen? Eigentlich hat Haftbefehl schon alles gesagt (Songtext des Jahres: Wir laufen rückwärts, ich hoff’, das’ den Menschen klar / Und so langsam kommen wir dem Ende nah / (…) / Kalt wie Dezember.)
Also, na gut, ok. Weil Ihr es seid. Wenn Ihr unbedingt wollt, machen wir auch einen Jahresrückblick. Los geht’s!
2021 (respektive 2565, buddhistisch, oder 1442–1443, islamisch) war das Jahr von…
Aus dem Hintergrund, nochmals Hafti, fremd im eigenen Benz, König und Hofnarr in einem, so: Ey, ey, ey, ey / Okay, okay, check, ah
Sturm aufs Kapitol • kein Twitter, Facebook und Snapchat mehr für Trump • COVID-Massnahmen in der Schweiz verlängert • Flockdown • GAMESTOP • Nouvelle Nahda, in der Stadt, im Kino und im Netz • Covid-Massnahmen verlängert und verschärft • Biden, BioNTech, Bernd (das Tiefdruckgebiet) • Hohes Wasser, Gaza, Golfstrom? • Schrittweise Öffnung mit Maskenpflicht • 100 Jahre Dürrenmatt, 100 Jahre Beuys, 150 Jahre Rosa Luxemburg (Yeah!) • Podcasts • EVER GIVEN • Covid Schnelltests für den Eigenbedarf • Laschet gegen Söder • Polystyrol wird illegal • Schule und Depression • Homeoffice und Depression • Zoom-Fatigue und Depression • Impftermin? Impftermin! • Trottinett Ballett • RYANAIR 4978 • Kein CO2 Gesetz, nix Trinkwasser, dafür PMT • Ongoing: Uiguren, Beirut, Syrien • SHITFLUENCERS • Japan no Olympics bzw. Einreise nur für Sportler:innen • Greta auf der Vogue • Und das Neumarkt fährt jetzt E‑Bike • Fuck, Fuck, Fuck: AFGHANISTAN! • Beyoncé und Jay‑Z für Tiffany Diamond Star • (hat jemand den Basquiat erwähnt?) • DONDA! • Öffnungspaket mit 3G • Madama Butterfly • Mater Dolorosa • Jeff Bezos war im All und Elon Musk trennte sich halb von Grimes • Die SVP spielt freie Schweiz gegen linksgrüne Städte • Freiheitstrychler sind die letzte Linie der Verteidigung (ok, Cowboy) • Niger, Nawalny, neuer Song von Radiohead • Ehe für alle! • Endlich TWINT an der Bar! • Österreich, WTF? Kurz. • Warten auf: Warten auf GODOT in Mainz • Endlich Malaria-Impfstoff? • James Bond checkt sein Privileg • GLETSCHERREQUIEM • Bitcoin, Etherium oder Solana? • Glasgow Klimakonferenz • Erdoğan sagt ab (China auch) • Australien hat am längsten zu gemacht • 100 Ways to Say We • Meta • Squid Game und Gesellschaftsspiele • Vierte Welle, btw • Und im ZDF/SRF, alle so: CRINGE! CRINGE! CRINGE!
Ja, ey, Alter, Gopfriedstutz! Das ist noch speziell gewesen, dieses 21. Nach all dem, was wir zusammen durchgemacht haben, noch drei gute Nachrichten (auch, weil ja manches trotzdem schön war):
1. Noch zum letzten Mal zu sehen: Whistleblowerin/Elektra (Stichwort: Nestlé, Babykeks, Operngesang)
2. Noch einmal Familienstück: Gretel und Hänsel (Kannibalismus, Kapitalismus, Kunstmarkt für Kinder)
3. Und nochmal geballt & live: Literatur am langen Wochenende literally
(Achtung, Namedrop:)
Cemile Sahin
Michael Fehr & Janiv
Oron Ivna Žic & Saša Staničić
Senthuran Varatharajah & Fabian Saul
(Herz! Herz! Herz!)
Und dann ist aber wirklich fertig 2021!
Wir stellen uns vor, es ist Silvester. Eine lange Tafel, Silberbesteck, Champagner (der Ruinart Rosé von der Art Basel, um genau zu sein), Kaviar (Foie gras haben wir abbestellt, aus moralischen Gründen). Wir sind eine eingeschworene Gemeinschaft, Crème de la Crème, Ihr, wir, Ernst Bloch (Philosoph, väterlicher Freund von Rudi Dutschke, Autor des Evergreens: «Das Prinzip Hoffnung»), Ilse Aichinger (österreichische Autorin, die nicht schreiben wollte, radikal gegen die Verschönerung der Welt) und Haftbefehl (der kam schon vor, Poet**, Babo & Rapper aus Offenbach).
Haftbefehl erhebt das Glas.
Haftbefehl Mich verfolgt die Frage
(Wir so Yeah-yeah) Was ich mich häufig frage (Ernst so Yeah, yeah-yeah) Stellt Ihr auch Euch die Frage?
Ilse Mich wundert, dass sich niemand wundert.
Wir so Eat the rich! Save Our Souls.
Ernst so Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?
Ihr so We are doomed.
Ilse, den Mund voller Kaviar Träume sind wachsamer als Taten.
Haftbefehl so Wascht Euch die Schmauchspuren aus der Seele.
Ilse Beruhigen Sie sich, armer, bleicher Bürger des XX. Jahrhunderts! Weinen Sie nicht!
Die Tür geht auf, Franco «Bifo» Berardi (Medientheoretiker, Autonomer und Marxist) stösst zur Truppe, er war kurz noch zu Hause, Pasta essen.
Bifo We are in a place with no hope but friends.
Rihanna (Sängerin, wo kommt die denn her? Ah, aus dem Radio) We found love in a hopeless place.
Ilse Haben wir nicht lange genug aneinander vorbeigeschaut, haben geflüstert anstatt zu sprechen, sind geschlichen anstatt zu gehen? Sind wir nicht lange genug, von Furcht gelähmt, einander ausgewichen? Und wo sind wir heute?
Rihanna Bitch better have my money…
Ilse Haben Sie richtig verstanden? Uns selbst müssen wir misstrauen.
Wir so Genau! Abstand halten, auch zu dir selbst.
Ernst Prinzip Hoffnung. Verwirrung, Hundeleben, wankender Boden – auch wenn wir nicht wissen, warum, so ist klar: Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.
Wir so Finden wir auch.
Bifo Is it my turn now? Impotence is the new reality. Step down. Can I have three more minutes to talk about resignation?
Ilse Wir sollten im Finstern schauen lernen und darin die Masse des Tages wiederzuerkennen.
Bifo Stop Working. This is my proposal.
Das leuchtet Euch ein, uns ein und sogar dem Ernst.
Und Haftbefehl so Ah, ok. Für immer reich! Bitch, ah, ah.
Alle so Prosit Neujahr.
Ey, ey, ey. Ah.
Dein Neumarkt.
PS: Die Pandas haben seit dem ersten Lockdown auch keinen Sex mehr gehabt.
* Menschen, meist Mäzen:innen mit Ultra High Net Worth. In Zürich gibt es 2139 UHNW.
** «Schöne Grüsse an die deutschen Charts, die sind mir scheissegal.»
November 2021
Liebe Insiderinnen und Insider
Liebe Links-Versiffte, Liebe Kurator:innen, liebe Menschen mit Nazivordergrund
Trigger Warnung: Manches in diesem Brief ist ernst gemeint, may contain serious language.
November, Nebel, Volksabstimmung. Eigentlich ist das hier doch eine gute Plattform, um die schönsten Zitate von ein paar sehr begabten Männern zu würdigen – um sie zu empowern, quasi. Die Herren, bitte:
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. (Rilke, Rainer Maria)
Der Schieferdecker ist vom Dach gestürzt. (Schiller, Friedrich)
Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod. (Mann. Welcher wohl, Zwinkersmiley, Fragezeichen.)
So elend ich auch sein mag, ich ziehe es immer noch vor, so lange wie möglich gequält zu werden. Und das gilt auch für alle meine Patienten. (Ibsen, Henrik)
Eben: Kunst. Schon geil, oder? Kunst verstetigt und bricht auf, stiftet Identität. Ist mal Dekoration, mal Meditation, mal Provokation. Manchmal auch ein gutes Investment, Reibungsfläche, menschliches Dasein in a nutshell. Super Sache, insgesamt. Ach ja, die Gletscher schmelzen immer noch. Wenn du noch nicht herausgefunden hast, was ein Rollibock ist, geh dir doch schnell das «Gletscher-Requiem» anschauen. Läuft nämlich noch.
Überhaupt, Kunst und Politik auch. Was heisst eigentlich Medien? Digitalisierung? Community? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Was heisst «Wir»? Wo gerade alle «Wir» rufen und die Kreise um ihre Bubbles immer enger ziehen? Da ist beispielsweise das «Wir» der Besitzlosen, das geschlechtlich differenzierte «Wir», das «Wir» der intersektionalen Feministinnen, das «Wir» der traurigen Männer, die zum Schreien in den Wald gehen, das «Wir» der Eco-Sex-Bewegung, das «Wir» der BiPoc … aber wer ist eigentlich We, the People? In Venedig und als Online-Projekt gehen wir in unserer Ko-Produktion mit dem Goethe-Institut / Performing Architecture «100 Ways to Say We» der Frage nach einem ambitionierten und mindestens genauso umkämpften «Wir» nach. «How will we live together?»
Hm. Schwieriges Thema. Aber eins ist klar: auf Brecht lassen wir nichts kommen! Man nehme ein bisschen Zeigegestus und V‑Effekt und mische es mit good old Agitprop… Artivism ist schon schwierig. Was ist das denn jetzt? Kunst oder Aktivismus? Es ist ein bisschen unübersichtlich, zugegeben. Und, ja, nei. Künstler und Kriminelle… auch so ’ne Geschichte. Die mögen sich – so berichten Experten in Qualitätsmedien – seit den 1968ern sehr gern. (März 1968 ging das los, ein Donnerstag, meinen wir uns zu erinnern). Goldene Zeiten, als man die Gesellschaft noch easy-peasy für alles blamen konnte. Unser Mann bei der Weltwoche, äh, Tages-Anzeiger – natürlich! – würde lieber mit Disarstar mitrappen: Deine Lehrer, Christian Lindner und die Zeitung sagen, du bist deines Glückes Schmied. (Gell, Rico Bandle?)
Also, selbst schuld?
Wir ziehen uns meanwhile die Boxhandschuhe an und steigen mit #BIGDREAMS in den Ring. Eine Öffentlichkeit ist ja auch ein Streitraum. Und auch wenn wir zur Enttäuschung mancher keine Straftaten beschönigen und auch keine Opfer dissen werden, würden wir doch gern reden: über strukturellen Rassismus, die Rolle der Medien und das Justizsystem. What else?
Moral, das ist, wenn man moralisch ist, hat Büchner, I’ll find a day to massacre them all, hat Shakespeare gesagt bzw. nein, natürlich nicht gesagt – wichtiger Unterschied! –, sondern hat Shakespeare sagen lassen, seine Figur nämlich. Auch schwierig, jetzt, weil: ob die nun ausschliesslich von Menschen mit Tendenz zum Killing Spree dargestellt werden dürfen, ist leider nicht zweifelsfrei überliefert. Ausserdem war Shakespeare bestimmt eine Frau oder hat seine Frauen unbezahlt für sich schreiben lassen. Oder Shakespeare war queer und alles nochmal anders? Naja. Er war tot, hat Karl May geschrieben, fertig Winnetou, und hat sich am Ende alles nur ausgedacht. Also dürfen das vielleicht auch nur frei erfundene Spielerinnen spielen? Angesichts so viel Exotismus und Projektion sind wir tatsächlich überfragt. Hilfe! Man rufe die Stadt-Ethiker:in und den Kantonsjuristen! Oder wie Gerhard Hauptmann meinte: Die kluge erfahrene Dame hat nichts gegen irgendwelche Moral, sofern sie das Recht der Sinne nicht einschränkt.
Du kommst nicht mehr mit? Wir auch nicht. Zynismus ist modernisiertes unglückliches Bewusstsein: erfolgreich und vergeblich aufgeklärt, gutsituiert und miserabel. Ironie dagegen hilft, Unvereinbares zusammenzuhalten, weil alles davon wahr ist, gerade in seiner Unauflösbarkeit. Ein ernstes Spiel. Ironie hilft auch, das zuzulassen, was in einer Welt, wo alle auf der richtigen Seite stehen, gar nicht mehr vorkommen darf. Wir mögen Ironie. Also: Sichtbarmachen, Aushalten und damit spielen lernen!
Aber deswegen, gleichzeitig, trotzdem: Es lebe die Ambivalenz! Es leben Gedanken, die zu komplex sind für eine Schlagzeile, und manchmal trotzdem in drei Worte übersetzt werden müssen! Es leben tolle Bücher («Herkunft»!), es leben mutige Menschen (Emran Feroz!) und es leben die Motten und das Licht (Mama!). Es leben Gefühle, die zu gemischt sind, als dass sie dich auf etwas klicken, liken oder kaufen lassen! Es lebe das Hoffen und das Zweifeln, das Schöne, das Wahre und das Gute, das Vergeben und die zweite Chance und dass es immer am dunkelsten ist, bevor der Tag anbricht!
Weil: Bitch, ich lebe Leben. (Haftbefehl, Der)
Und: Es lebe die Kunst! Seriously.
Also, habt euch lieb und bleibt gesund.
Love Play Fight
Dein Neumarkt
PS: Das war hier alles nur ein Ablenkungsmanöver. Die Wahrheit und das Programm findest du auf unserer Website.
PPS: Unser Intimacy Coach war früher bei Disney+.
PPPS: Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: Die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen…, sagte noch Marinetti zum Thema Zukunft. Darüber wird noch zu reden sein. In der nächsten Folge.
Oktober 2021
Liebe Erst‑, Zweit- und Drittgeimpfte! Besondere Communities, liebe SVP*! Hello sunshine!
Na?
Wie geht’s?
Also wir… Wir. Na ja. Alles scheisse, sagt Gorgo. Auch die Velowege. Aber hey! Wir sind immer noch hier (hoffentlich). Mit Maske. Es regnet vermutlich. Dafür sind wir jetzt so richtig exklusiv: Zertifikat, Türsteherin and all the rest. Bald 5G. Wenn Du weisst, was wir meinen.
Ja, ja, ja. Es ist wieder Herbst. Blätter fallen, Zahlen steigen. Aber Kopf hoch! Wir wollen in der ungünstigen Lage nicht missgünstig werden. Ach, Corona hat auch schon mal besseren Stoff für Smalltalk geliefert. Backt ihr eigentlich noch Sauerteigbrot? Im Lockdown auch Ungarisch gelernt? Institutionelle Selbstbefragung gemacht? Haben die Taliban jetzt eigentlich auch einen Code of Conduct? Aber wir schweifen ab.
Hier verliert man ein bisschen die Orientierung. So zwischen veralteten Kriterien und Kennzahlen, Sinn und Verstand, Zeichen und Bedeutung, Zertifiziertem und Zertifikat.
Fast möchte man sagen, alles fliesst. Aber uns scheint eher: Alles tropft. Der Regen, der Permafrost, der Gletscher. Auch eher ungünstig. Aber hey! Radikale Hoffnung beginnt da, wo man mit der Möglichkeit des Untergangs des eigenen Way of Life zu leben lernt. Jocoserious, quasi.
Weil – wenn Du Dich jetzt nicht entscheiden kannst, ob das jetzt traurig ist oder grotesk, um einen Gletscher zu weinen, liegt das vermutlich daran, dass eben beides zutrifft. So viel sei verraten: Poetisch ist es dabei auch, das Gletscherrequiem. Und kennst du den? Kommt ein Rollibock in ’ne Bar… (Ah? Du weisst nicht, was ein Rollibock ist? Tja. Denk mal drüber nach.)
Und damit wären wir schon bei unserem nächsten Highlight: Body Odour, Wet Earwax und Chihuahuas. Für alle Asien-Fans: Madama Butterfly, einmal gegen den Strich gelesen, begibt sich in eine zwielichtige Bar und bringt uns in ein Spiegelkabinett aus Exotisierung, Verachtung, Avataren und Kimonos. Und dazwischen immer diese Diskussion darüber, wer eigentlich wen warum spielen oder eben nicht spielen darf.
Viel Verwundbarkeit, westliche Dominanz… Ach, ach, ach! Und jeder Tag gleicht dem anderen… Aber vielleicht ist morgen ja der beste Tag Deines Lebens? Wenn Du auch Erinnerungen sortierst und dosierst wie Kochrezepte; wenn Du isst, nicht weil Du hungrig bist, sondern dein Mund sich einsam fühlt, dann ist das Stück unseres Ensemblemitglieds Yara Bou Nassar vielleicht genau das Richtige. Weil: Tomorrow Is the Best Day of My Life!
Wo wir schon dabei sind: Warum sind Wände eigentlich nicht flexibel? Es wäre doch schön, wenn sich die Wände nach den Menschen richten würden, und nicht umgekehrt! Heisser Tipp für softe Skills: → Stirnimann & Stojanovic mit Mama in der Chorgasse!
Nicht so nice und auch nicht funny: Andere Menschen werden wiederum so weggesperrt, dass nicht mal die Qualität der Wände (pink) an der Tatsache was ändern würde, dass die UNO das als Folter einordnet. Swiss Quality Torture. Frei nach dem Motto: Wenn was stört, sperr es halt weg und mach ein Monster draus. Mensch. Das gibt Klicks. Ist doch «Sick»! Steigen wir mit ein ins Medientheater- und «Carlos»-Verwertungsbusiness, um mit Cash’n’Clicks grosse Träume zu träumen. (→ #Bigdreams)
Und überhaupt: There’s no business like «SHOW BUSINESS»! Melanie Jame Wolf und Teresa Vittucci finden raus, was es braucht, um eine Show great zu machen – Entertainment, Theater, Spektakel. Don’t share this insider secret! It’s gonna be hot. Be ready!
Und, na ja, just saying: Dein Kopf ist gefickt, und du bist im Grunde frei. Die Welt ist sick, die einen haben viel, die anderen nix. Pandemie ist auch noch. Unsere Empfehlung: Besser leben mit der Theorie der Fragilität für ein neues Denken im post/pandemischen Leben.
Also, zeigt her eure Zertifikate, Ausweise, Testergebnisse – Winter is coming!
Seid nett und bescheiden!
Und jetzt: Exit through the Webshop!
LOVE PLAY FIGHT
Dein Neumarkt
PS: Forget Antiziganismus, Klischees und Kitsch: Romanes ist lingua franca und Romnija eine Avantgarde der Identitäten. Educate yourself und komm vorbei.
PPS: Arbeitslager für Mädchen in Not, Kriegsmaterialexporte an NS-Deutschland, Versuch der Einmischung in die historische Aufarbeitung: Was die Sammlung Bührle sonst noch so zu bieten hat, kann Erich Keller am besten selbst erzählen.
PPPS: Auch bei uns im Oktober sind die «Legends of Entertainment». Die erste macht Witze über Heteros, die zweite schreibt über Katzenbabytreten und die dritte singt darüber, dass Liebe überbewertet ist. Diese Community sollte man im Auge behalten.
PPPPS: Sollen wir echt alles aufzählen hier? Schau doch einfach auf die Website, da steht alles zu all unseren Veranstaltungen – auch was Seriöses.
* Liebe Corona-Leugner:innen und Impfgegner:innen – ihr seid e chli doof, aber natürlich mitgemeint. Nix für ungut. Bitte einfach trotzdem testen, bevor ihr kommt.
September 2021
Liebe Bonvivants, Dearest Readers, liebe Gefährderinnen und Gefährder!
Was war das eigentlich für ein Sommer?
Na ja, Schwamm drüber! Immerhin konnte man wieder in den Süden fliegen, ohne ärgerliche CO2-Flugbilletabgabe. War noch eindrücklich in Griechenland. Dafür hat es sich doch gelohnt, den Impftermin zu canceln!
Jetzt ist aber fertig Fernreise. Wir können uns wieder in unseren prächtigen Kleidern in den Foyers und Ballsälen dieser Stadt tummeln. Unbelastet von den Irrungen und Wirrungen der globalen Verfasstheit und den Zumutungen, die aus der Tierwelt auf den Menschen überspringen. Die soll man doch mal canceln, nicht immer uns!
All is well! Also widmen wir uns diese Spielzeit den schönen Dingen des Lebens: Familie und Mutterschaft, Schönheit, Natur, Popmusik und Philosophie, Wahrheit, italienische Delikatessen und Liebe. Ach, die Liebe! Es geht nicht ohne sie.
Ja, nein, also gut: Wir geben es zu. Bei allem Willen zur Leichtigkeit, ein paar graue Wölkchen gibt es doch am Himmel unserer Seelen (Herrje!? Gibt’s schon wieder Hagel?). Diese guten alten nuisances: Kolonialismus, Rassismus, Klassismus, Sexismus … Fühlt Euch frei zu ergänzen, wir arbeiten hier ja auf Augenhöhe. «Gelacht wird darüber, dass es nichts zu lachen gibt», wusste schon der alte Adorno, der zum Sterben in die Schweizer Berge ging. Ja, ja. «Fun ist ein Stahlbad.» Manchmal muss man durch den kalten metallischen Regen und in Splittern baden. Und während sich die grauen Wolken entladen, schmeissen wir den Porsche Cayenne einfach in den See und den Tesla in die Sihl. The mother’s dream is the son’s nightmare.
Das wird ein schönes Jahr! Wir starten die Spielzeit zu Gast auf den grün funkelnden Landiwiesen des Theaterspektakels mit unserer internationalen Koproduktion. In ihrer neuesten Arbeit nimmt sich die junge japanische Regisseurin und Autorin Satoko Ichihara Puccinis Oper «Madama Butterfly» an. Eine junge Geisha wird mit einem amerikanischen Offizier verheiratet. Dieser schwängert sie – und verschwindet kurz danach. Pfui, pfui, pfui! Als sie erfährt, dass er erneut geheiratet hat, begeht sie Suizid. Story old as time, was Frauen halt so machen. Ichihara dreht den Spiess in der historischen Wunde um. Im Zentrum des Stücks steht eine junge Frau im 21. Jahrhundert. Um sie herum wallende Vorhänge, auf denen sich Identitäten, westliche Schönheitsideale, Gaijin hunters, Lookismen, Rassismen und postkoloniale Perspektiven entfalten. «Mascara is your life. Apply it over and over, in layers, while intoning, ‹Please let me copulate, please let me copulate›.» Aber: Shhh! Don’t share this Madama Butterfly insider secret!
Und weil wir, Dearest R_eader, so auf derselben Wellenlänge sind, gleich noch ein Geheimnis: Mitte September laden wir dich ein, als Noviz:in Teil unserer Töchterschule «Mater Dolorosa Bleed» zu werden. Wir verwandeln den Saal in eine Schule und rufen die Geister zurück. Don’t call us! We call you! Die Geschichte der Mater Dolorosa geht weit zurück bis ins 19. Jahrhundert. Sie war eine Disziplinierungsanstalt, in der aus jungen Frauen perfekt funktionierende Hausmütterchen geformt wurden. Seit kurzem gilt das aber in der Schweiz als unmodern. Deshalb dient die Mater Dolorosa nun den M_others als sicherer Uterus: Abseits der Kleinfamilie muttern hier die «violators of the parenting norm» und bilden eine queer-feministische DIY Untergrund-Klinik, eine Hexer:innenvereinigung und tauschen Praktiken und Wissen rund um Mutterschaften, Schwangerschaften, Abtreibungen, pflanzliche Geburtenkontrollen, Ehen für Alle und Selbstuntersuchungen aus. Folgt der Figur der Leihmutter, werft eure Kittelchen über, beobachtet die Rituale und taucht ein. Join the family! – wenn ihr wollt. Eine Familie, wie wir sie noch nicht gesehen haben. Da ist einiges am Start, Baby!
Jä nu. Bleibt nur die Frage: Was nützt dir deine Identität, wenn die Meeresspiegel steigen? Das erfahrt ihr in der nächsten Folge.
In diesem Sinne,
Love Play Fight
Dein Neumarkt
(a.k.a. Home of the Creeps)