Whistleblowerin/Elektra

Hintergrund

Elektra, Yasmine Motarjemi und Mona somm Schweigen nicht.

Elektra flüstert, sie singt und schreit. Sie fordert Rache – in der griechischen Mythologie, bei Sophokles, in Hofmannsthals Libretto. Und erst recht in der Oper von Richard Strauss. Ihr Vater wurde ermordet. Von ihrer mutter und deren Geliebten.

Yasmine Motarjemi hat gelernt, ruhig zu bleiben. Sie ist Expertin für Nahrungsmittelsicherheit, erst bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf, dann beim grössten Lebensmittelkonzern der Welt in Vevey, Nestlé. Fehler kann sie sich keine leisten. Erst recht nicht, als sie gegen Nestlé vor Gericht geht.

Mona Somm ist Sopranistin, und die Elektra ist ihre Traumrolle. Monas Weg ist nicht einfach: Töchter aus Arbeiterfamilien werden nicht Opernsängerinnen. Privilegien, Ausbildung und Kontakte bestimmen, wer auf der Bühne steht. Mona schreibt dem Chef der Tiroler Festspiele im österreichischen Erl, er lädt sie ein zum Vorsingen und engagiert sie für die Elektra. Nach der Premiere trägt er Mona auf die Bühne, das Publikum applaudiert.

Ein persisches Sprichwort sagt, auch mit einer Feder kann man einen Kopf abschneiden.

Wenn Reporter über Yasmine berichten, greifen sie meist die Geschichte mit den Babybiskuits auf. Wo Kinder gefährdet sind, ist  Aufmerksamkeit gewiss. Kleinkinder in Frankreich hatten sich an Nestlé-Keksen verschluckt und drohten zu ersticken, klagten Eltern. Yasmine sammelt über 40 Fälle. Die Babykekse sollten vom Markt genommen werden, findet sie. Das Management weigert sich. Ein Mann stellt sich ihr in den Weg. Er wird ihr Chef.

Als er die Abteilung übernimmt, wird für sie aus Gegenwind Mobbing. Ihre Mitarbeiterinnen werden versetzt, Projekte umverteilt, ihre Anweisungen blockiert. Kollegen gehen ihr aus dem Weg. Zu Sitzungen ist sie irgendwann nicht mehr eingeladen. Ihre interne Beschwerde wird erst ignoriert, dann mit einer Scheinuntersuchung abgespeist. Im Organigramm rutscht ihr Name zu denen der Sekretärinnen. Irgendwann liegt die Kündigung auf dem Tisch.

Monas Chef ist der Gründer der Festspiele in Erl, künstlerischer Leiter, Intendant, Regisseur, Dirigent. Hinter der Bühne schreit er Mona an, verleumdet und mobbt sie. Manche Mitarbeiterinnen werden angefasst und auf den Mund geküsst. Wer widerspricht, wird gedemütigt oder ersetzt oder beides. Ein österreichischer Publizist berichtet auf seinem Blog von ungleicher Bezahlung, Ausbeutung und unregelmässigkeiten in der Buchhaltung. Die tiroler Politik, das Präsidium der Festspiele und die Öffentlichkeit reagieren nicht.

Irgendwann reicht es Mona. Mit vier Kolleginnen schreibt sie einen offenen Brief. Die Künstlerinnen bezeugen «ungehemmte Aggression», «massive seelische Gewalt in Form von Mobbing, öffentlicher Blossstellung, Demütigung und Schikane». Sie beschreiben «Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe» am Arbeitsplatz. Dementi folgen, Angriffe, Unterstellungen, es ginge um gekränkte Egos von Künstlerinnen, nicht um systematischen Machtmissbrauch. Aufträge gibt es für Mona und ihre Kolleginnen nur noch wenige.

Yasmines Auseinandersetzung mit Nestlé zieht sich über zehn Jahre hin. Und kostet sie Karriere und erspartes. Freundschaften und Lebenszeit. Und ist zur unbezahlten Hauptbeschäftigung geworden. Nestlé hätte ihr eine stattliche Abfindung geboten, wäre sie still gegangen. Ihr Sohn sagt: «Mit dem Teufel kann man keine Deals machen.»

Ein Gesetz, das Whistleblowerinnen schützt, gibt es in der Schweiz, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, nicht. Die Schweiz bastelt seit 15 jahren an einem Zusatz im Arbeitsrecht. Der letzte Vorstoss scheitert im März 2020 mit 147 zu 42 Stimmen im Nationalrat.

Die österreichische Gleichbehandlungskommission prüfte die Vorwürfe von Mona und ihren Kolleginnen. Und hielt sie für glaubwürdig – ein symbolisch wichtiges, aber rechtlich nicht bindendes Urteil. Die Staatsanwaltschaft in Tirol stellte im März dieses Jahres die Ermittlungen ein, mit der Begründung: «Am ende blieb kein Vorfall übrig, der strafbar, nicht verjährt und beweisbar gewesen wäre».

Yasmine bekommt dennoch recht: Drei Richterinnen urteilen, sie sei «auf hinterhältige Art und Weise» gemobbt worden. Das Nestlé-Management hätte davon gewusst, stellen die Richterinnen fest, habe aber «weder angemessene Massnahmen ergriffen, noch seine Sorgfaltspflicht erfüllt». Formal ging es um Arbeitsrecht, für Yasmine um Nahrungsmittelsicherheit. Mit der Sache abschliessen will sie erst, wenn Nestlé aus dem geschehenen lernt und Konsequenzen zieht.

Apropos sorgfalt: die Konzernverantwortungsinitiative will, dass Firmen wie Nestlé in der Schweiz haften, sollten sie im Ausland nicht sorgfältig arbeiten und dort Menschenrechte oder Umweltstandards verletzen. Am 29. november 2020 wurde abgestimmt. Das schweizer Stimmvolk lehnte die Initiative ab.

Und zu Elektra: Ihr Bruder rächt den Vatermord und erschlägt die Mutter und ihren Geliebten. In ihrem triumphalen Freudentanz bricht Elektra zusammen und stirbt.

Hinter der Recherche


Der Text entstand in Zusammenarbeit von Sylke Gruhnwald, Anna-Sophie Mahler und Julia Reichert. Er basiert auf Interviews mit Yasmine Motarjemi sowie auf zwei offenen Briefen. Einen von ihr an den CEO von Nestlé, der zweite von Mona Somm und ihren Kolleginnen an den Präsidenten der Tiroler Festspiele Erl. Das Team führte Interviews mit Familie und Freunden von Yasmine Motarjemi, sprach mit aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern von Nestlé, las Gerichtsurteile und konnte vertrauliche Dokumente einsehen, befragte Aktivisten und eine Rechtsanwältin, die Staatsanwaltschaft in Innsbruck sowie die Gleichbehandlungskommission in Wien.

Nestlé

Nestlé ist heute der grösste Nahrungsmittelkonzern der Welt. Gegründet wird das Unternehmen 1866 in Vevey am Genfersee. 2019 zählt Nestlé 291‘000 Mitarbeiterinnen in 187 Ländern. Und die Arbeiten für Alete, Kitkat, Nespresso, Henniez oder San Pellegrino, Maggie, insgesamt für rund 2000 Marken. Und für mehr als eine Milliarde Konsumenten pro Tag.

Nestlés Finanzen 2019:

Gewinn: 12,7 Milliarden US-Dollar

Umsatz: 93,1 Milliarden US-Dollar

Marktwert: 304,1 Milliarden US-Dollar

Kritikerinnen decken immer wieder Missstände bei Nestlé auf: In den 70er Jahren veröffentlicht eine britische Hilfsorganisation die Studie «the baby killer», es geht um die Nestlé-Werbung für Babymilchpulver in Entwicklungsländern. Später um zu viel Zucker, Kinderarbeit und Menschenhandel, die Zerstörung des Regenwalds und Trinkwasser, teuer abgefüllt in Plastikflaschen. Nestlé widerspricht, unterzeichnet freiwillige selbstverpflichtungen der Lebensmittelbranche, wehrt sich vor Gericht gegen aktivisten.

Nestlé lehnt die Konzernverantwortungsinitiative ab.

 

tiroler festspiele erl

Monas Chef ist der Gründer der Festspiele in Erl, künstlerischer Leiter, Intendant, Regisseur, Dirigent.

Die Festspiele werden 1997 im österreichischen Erl gegründet und ein Jahr später mit Richard Wagners Rheingold eröffnet. Der Gründer besetzt alle wichtigen Posten: Indendanz, Regie, Dirigat.

Gründer der Festspiele in Erl, künstlerischer Leiter, Intendant, Regisseur, Dirigent.

Im August 2018 laufen an die 100 Strafverfahren gegen die Festspiele. Es geht um illegale Beschäftigung von Ausländern, Sozialabgaben, die nicht bezahlt wurden, Plagiate. Und um Vorwürfe sexueller Belästigung. Gegen den Festivalchef wird ermittelt. Der bestreitet die Vorwürfe zwar, tritt im Oktober 2018 dann doch zurück. Im März dieses Jahres wird das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt.

Der österreichische Publizist Markus Wilhelm berichtet auf seinem Blog dietiwag.org über die «Causa Erl». Der ehemalige Festivalchef geht gerichtlich gegen die Recherchen vor. Ende Oktober gibt dieser auf.

Ein einziges Verfahren gegen Markus Wilhelm ist noch hängig. Der Präsident der tiroler Festspiele Hans Peter Haselsteiner – er stand bis 2013 an der Spitze des österreichischen Baukonzerns Strabag – will nicht ablassen und wehrt sich weiter gegen die Recherchen.

Unterstützerinnen des Journalisten sammeln Geld, um dessen Prozesskosten zu bezahlen.